Darf ich Sie in ein Land vor unserer Zeit entführen?

Willkommen am kretischen Syntagma. Beim Schmähführer Michalos wird unter der schattenspendenen Platane nicht über die Verfassung, wohl aber über „die da drobn“ diskutiert. Spätestens nach dem zweiten Stamperl Tsikoudia ist sich die Dorfgemeinschaft einig: Kreta kann ohne Griechenland, aber Griechenland nicht ohne Kreta.

Am schmucken Dorfplatz fühlt sich die Generation Baujahr 1980 sofort an seinen ersten Griechenlandurlaub erinnert. Im traditionellen Kafenion wird das sakrisch guade Essen nicht etwa über einen QR Code bestellt, Nein – weit weg vom kretischen Ballermann Malia, wählt der werte Gast aus der liebevoll gestalteten Speisekarte aus. Sternchen mit Hinweis auf Konservierungsstoffe? Fehlanzeige! Bei Familie Skoulas landet nur Natur pur auf den selbstgetöpferten Tellern. Das mit Olivenholz befeuerte Öflein öffnet sich und der Duft von frisch gebackenem Galaktoboureko umströmt das authentische Kaffeehaus. Wie aus dem Nichts deckt sich der Nachbartisch mit reichlich Mezedes. Pünktlich zum ersten Glockenschlag um 10 Uhr gesellt sich der Briefträger Jorgos zu uns: „Ach – ich bin kurz vorm kretischen Burn-Out, die vielen Pausen machen mir echt zu schaffen fügt, Jorgos mit einem Augenzwinkern hinzu. Der gut gelaunte Postler, händigt einen Schwung Zahnstocher aus und erklärt mit weit geöffneten Armen: Bedient Euch, meine Teller sind eure Teller! Angeregt unterhalten wir uns über die einstige Briefträger Romantik, die in Deutschland herrschte, bevor die Bundespost privatisiert wurde. Pfff, sobald meine Arbeits- länger als meine Pausenzeit ist, reiche ich sofort die Kündigung ein erklärt uns der Mitvierziger mit gellenden Gelächter. Heit pressiert nix, Jorgos lässt sich frischen Ellinikós aufgießen und wettert gegen den Versandriesen aus Jet City. Sisyphos sei das beste Beispiel dafür, wie griechische Mythologie zur Realität wurde. Ich mag der König von Anogia, nicht aber die Hoheit von Aiolos sein. Irgendwelche Packerl mit Synthetik Klamotten und Elektroschrott ausliefern, um diese dann zwei Tage später wieder abzuholen?! O kosmos einai paraxenos (die Welt ist am Durchdrehen). Energisch teilt uns Jorgos philosophisch seine Sicht der Dinge mit. So wie sich der Staatsbedienstete mit uns ausgetauscht hat, beschließen wir unsere Daheimgebliebenen zu kontaktieren.

Im Herzen von Anogia werden Erinnerungen nicht über Messengerdienste geteilt, wer seinen Liebsten Urlaubsgrüße senden will fragt nicht nach dem WIFI Code, sondern lässt sich vom Wirt eine Handvoll Euronen in Drachmen wechseln, die knallrote UK phone box schluckt schließlich nur Münzen mit dem Konterfei von Konstantinos Kanaris. Wer in der Stimmung ist, ein paar Worte über das urige Kafenion zu verlieren bekommt einen Block mit Farbstiften ausgehändigt – in den Bergen Kretas setzt man auf Handgeschriebenes und nicht auf fünf grüne Kringel . Dieses orignielle Platzerl tut der Seele gut und belebt die Kreativität. Just ist man in der Stimmung eine gute alte Postkarte zu schreiben, die passenden Briefmarken zückt Michalos aus der Olivenholzschublade.